In der 26. Blognacht fragt Anna, was mich sprachlos macht. Wie immer kommt, erstmal das Brainstorming, ob mich etwas sprachlos macht und wenn ja, was. Oder auch gibt es Missstände, auf die ich aufmerksam machen möchte. Dabei fällt mir mein eigener Weg ein, denn ich so mitmachen musste, um zu lernen meine Bedürfnisse zu kommunizieren. Die Erziehung, die ich genossen habe und die daraus entstandenen Beziehungen, die man so gar nicht wirklich bezeichnen kann. Denn das eine hat dazu geführt, dass das andere noch immer nicht in Gänze möglich ist, oder zumindest nicht so, wie es in meiner Vorstellung vom Gefühl her sein sollte. Um mir da folgen zu können, nehme ich dich mit durch meine Entwicklung, die, wie ich glaube, ziemlich vielen so ergangen ist.
Inhaltsverzeichnis
Die Geburt
Ich bin ein Zwilling und wurde in der 34. Woche per Kaiserschnitt geboren. Hier ging es schon los, dass man meiner Mutter die Fähigkeit abgesprochen hat, sie wüsste nicht Bescheid, wie der Stand sei. Sie kam ins Krankenhaus und wusste sehr genau, dass sie Presswehen hatte, da man sie nicht ernst nahm, war es schon fast zu spät, denn ein Zwilling 🙋♀️ lag vor dem Ausgang und der andere wollte raus. So musste sie in Vollnarkose gesetzt werden und wir wurden herausgeschnitten. Ich nehme an, dass aufgrund der Schwangerschaftswoche nicht davon ausgegangen wurde, dass wir doch schon hinauswollten. Hier gingen die Bindungsprobleme schon los, mein Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit wurde nicht erfüllt.
Der Brutkasten
Wir wurden wie damals üblich in den Brutkasten gesteckt. Ich weiß nicht, wie es heute gehandhabt wird, damals wurde sich aber recht wenig um so einen kleinen Zwerg gekümmert. Die Bindung zur Mutter, die so wichtig ist, wurde nicht beachtet. Ich musste, weil ich so klein war, sogar noch eine Woche länger im Krankenhaus bleiben. Ich gehe davon aus, dass ich ordentlich versorgt wurde, mit Milch und Windeln, dass mich aber keiner in den Arm genommen hat. Gerade als Zwilling, wo man neun Monate im Bauch zusammen verbringt, ist das Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit enorm. Zu Hause wurden wir, soweit ich weiß, nur zusammen in die Betten gelegt, wenn der Platz oder die Möbel nicht vorhanden waren. Ich kenne Bilder, wo wir Zwerge wegen der kleinen Größe im Kinderwagen zusammen lagen.
Bedürfnisse nicht kommunizieren
Diese frühen Momente in meinem Leben, haben mir beigebracht, dass ich meine Bedürfnisse nicht zu kommunizieren brauche. Denn damals wusste es niemand besser. Ich habe, als ich Mutter wurde, immer voll stolz gesagt, dass uns meine Mutter nie hat schreien lassen. Das ist nur fast richtig. Denn ein Baby, genauer ein Frühgeborenes, hat gar nicht die Ressourcen, um zu schreien. Bestimmt haben wir uns bemerkbar gemacht, aber darauf hat keiner geachtet. Es war damals noch genauso üblich, nach Uhrzeit zu füttern und zu wickeln.
Schwarze Pädagogik: Kinder haben keine Bedürfnisse
Die Nachkriegszeit und Frau Haarer haben bei einigen Generationen ganz schön was kaputt gemacht. Ich habe Bücher von meiner Mutter in Altdeutsch gesehen, wo beschrieben wurde, wie das Kind sich zu verhalten hat. Also als Neugeborenes hast du deiner Mutter acht Stunden Schlaf zur Erholung zu gönnen. Wie um alles in der Welt kommt jemand auf die Idee, dass ein Baby weiß wie lang acht Stunden sind. Es verschlägt mir die Sprache, wenn ich daran denke, wie viele Kinder damals in dunklen Zimmern allein schreiben gelassen wurden. Die daraufhin verlernt haben, ihre Bedürfnisse zu äußern, weil sie ja nicht gehört wurden. Vielleicht war der ursprüngliche Ansatz dazu da, um gefügige Soldaten für der Zweiten Weltkrieg zu kreieren.
Schlaftraining
Heutzutage heißt das ganze Schlaftraining, um den Babys beizubringen allein zu schlafen. Wieso sind Menschen die einzigen „Tiere“ die ihren Nachwuchs allein schlafen lassen wollen? Das erschließt sich mir nicht. Da fragt man sich doch, wo die Bindungsprobleme herkommen. Die Eltern sollen immer nur eine bestimmte Zeit vor der Tür warten, irgendwann „lernt“ das Kind dann allein zu bleiben und hört auf mit weinen. Es dauert zwar länger, aber der Effekt ist derselbe. Das Kind hört auf, sich zu melden und sein Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit zu kommunizieren.
Das Kommunizieren der Bedürfnisse verlernt
Da einige Generationen verlernt haben auf ihre Bedürfnisse zu achten, ist völlig logisch, dass wir mit Volkskrankheiten wie Burnout und Depressionen zu kämpfen haben. Soziale Kontakte sind oft eher Online statt im realen Leben und die meisten möchten gar keine tiefe Bindung eingehen und wenn, dann sind sie oft problematisch. Ich habe starke Probleme damit, Menschen näher an mich ranzulassen, denn die Angst gleich wieder verlassen zu werden ist enorm. Ich muss gestehen, dass ich auch Kinder wollte, weil, die mich nicht so leicht verlassen können. Wir haben hier also viele Generationen, die in Familien aufgewachsen sind , wo glaubten Kinder sind manipulative Tyrannen. Es gab sicher einige Mütter, die hinter verschlossenen Türen, ganz anders gehandelt haben und jede von ihnen verdient einen Orden. Denn es war damals sicher genauso verrufen, wie heute einem Kind Industriezucker😉 zu geben.
Windelfrei
Als Teilzeit-Windelfrei Mama möchte ich dir das auch noch mitgeben. Unsere Gesellschaft hat ein Grundbedürfnis von Babys abtrainiert, das Bedürfnis sich nicht zu beschmutzen. Mit der Formulierung bin ich nicht glücklich, mir fällt aber nichts anderes im Moment ein. Es ist in unserer westlichen Welt völlig normal, dass Babys und Kleinkinder in die Windel machen. Warum wir das ganze nicht mehr können, weiß ich leider nicht, dazu werde ich vielleicht mal eine Expertin befragen.
Fakt ist aber, dass auch Babys schon ihre Ausscheidungen kontrollieren können und sie nicht in die Windel machen wollen. Leider ist es sehr verbreitet, dass Kinder erst ab dem 3. bis 5. Lebensjahr fähig sind, das zu können. Ich bin davon überzeugt, dass viele Koliken gar keine sind, sondern nur der Wille sie zu entleeren, und zwar nicht in die Windel. Mit der Zeit verlernt das Baby dieses Bedürfnis zu kommunizieren und muss es dann später wieder lernen. Und natürlich liegt es nicht daran, dass wir nur privilegiert sind und uns Windeln leisten können. In Asien ist es ebenfalls üblich, die Kinder „unten ohne“ zu lassen.
Traumata
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich aus meiner eigenen Erfahrung teilen kann. Durch solche Handlungsweisen in Bezug auf die Kindererziehung können Traumas entstehen. Die sind wie in meinem Fall gar nicht absichtlich entstanden. Damals wusste man es nicht besser. Und auch die Eltern, die sich damals an die Methoden von Frau Harrer gehalten haben, wollten für ihre Kinder sicher nur das Beste. Ich bin mir auch sicher, dass es viele Mütter gab, die gegen ihre Bedürfnisse gehandelt haben aus Angst vor den Folgen in der Ehe.
Bei mir wurde das Trauma des fehlenden Urvertrauens hervorgerufen. Normalerweise passiert es, dass zum Teil Generationen später, die Nachfahren dieses Trauma nochmal durchleben. Mein erstgeborener Sohn hat doppeltes Pech, denn sein Vater hatte ähnlich Probleme unter anderen Umstände beim Start in diese Welt. So hat er dieses fehlende Urvertrauen von beiden Elternteilen übernommen. Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie schwer es für zwei Elternteile ist eine Bindungsstörung zu haben und dann ein Kind, was ständig das Bedürfnis hat, in Beziehung gehen möchte, um Bindung aufzubauen.
Bedürfnisse, die erfüllt werden, verschwinden
In vielen Ratgebern zur Kindererziehung wird oft geschrieben, dass Bedürfnisse, die erfüllt werden, verschwinden. Ich bin leider auch davon überzeugt, dass wir über Generationen so viel Traumata entwickelt haben, dass es uns noch einige Jahre noch brauchen wird, um einen solchen Zustand zu ermöglichen. Ich sehe es gerade an meinem großen Sohn. Der fordert permanent und findet nicht wirklich ein Ende. Ich habe bisher, er ist inzwischen 6 Jahre alt, noch keinen Moment erlebt, wo er einen Zustand beendet hat.
Wie habe ich gelernt, meine Bedürfnisse zu kommunizieren?
Es hat bei mir sehr lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich eine eigenständige Person bin, die Bedürfnisse hat. Ich habe mich lange durch andere definiert. Ging der besten Freundin oder dem Partner schlecht, ging es mir schlecht und so weiter. Es gab tatsächlich sehr lange kaum Personen in meinem Leben, die mich schlicht nicht gefragt haben, was ich den will. So richtig aufgefallen ist es erst bei meinem heutigen Mann. Der hat öfter gefragt, was ich denn will und ich konnte selten eine Antwort drauf geben. Ich musste allerdings zwei Burnouts durchleben, bevor ich begriffen habe, dass es nur mir möglich ist, das zu ändern.
Ich habe schließlich Resilienz studiert, um einen Anfang zu machen. Da Wissen allein hat bis dahin aber auch nicht gereicht. Ich musste lernen laut zu kommunizieren, dass ich jetzt Zeit für mich brauche, denn im Alltag mit zwei kleinen Kindern gehe ich oft unter. Das klappt inzwischen sehr gut. Da ich auch die frühen Anzeichen erkennen kann, die mir zeigen, was ich nun brauche. Daraufhin ist mein Workbook „Liebe dein Chaos“ entstanden. Auch wenn der Titel eher darauf schließt, dass du dich besser organisierst, geht es hier auch darum dich richtig abgrenzen zu können und deine Bedürfnisse zu kommunizieren.
Hol dir mein Workbook „Aktionspläne“, um in kleinen Schritten gegen Aufschieberitis anzutreten.
Liebe Alexandra,
Judith’s „Blograd“ hat diesen Blogartikel von dir angezeigt, und ich freue mich für dich, dass du gelernt hast, deine Bedürfnisse zu kommunizieren! Ich stimme dir bei, dass die schwarze Pädagogik viel Unglück in die Welt gebracht hat. Ebenso die Unsitte, Kinder ohne Elternbesuch im Krankenhaus zu behandeln.
Schön, dass Ihr es mit Eurem Sohn anders macht.
Herzliche Grüße
Stefanie
Liebe Stefanie, ich habe gar nicht gewusst, dass es noch Krankenhaus Behandlungen gibt ohne Eltern 😳. Vielen Dank für deine Sichtweise. Herzliche Grüße Alexandra
Liebe Alexandra,
ein heftiger Ritt mit krassen Blitzlichtern. Das lässt aufhorchen. Macht nachdenklich. Ich stimme dir bei vielem zu. Erfüllte Bedürfnisse geben uns ein positives Gefühl. Ja. So habe ich es in der gewaltfreien Kommunikation auch gelernt. Das mit den Windeln war mir neu. Zu lernen, herauszufinden, was wir selbst brauchen ist auch für mich eine Königinnendisziplin. Wie schön, dass du nun auf die Frage: „Was brauchst du?“, in dir deine Antworten findest.
Ich wünsche dir das Beste auf deinem Weg.
Herzlich
Heike
Danke für deinen Beitrag. Deine Zeilen erinnern mich daran das ich drei Tage nach der Geburt operiert wurde. Was das wohl für Auswirkung auf meine Entwicklung hatte?
Liebe Kerstin, das ist eine gute Frage. Was für Auswirkungen das hatte hängt von den Umständen ab. Je nachdem was für welche das waren😅. Liebe Grüße Alexandra
Liebe Alexandra,
Judith’s „Blograd“ hat auch mir diesen Blogartikel auf der Welle angezeigt.
Was du beschreibst kann ich aus meiner über 30-jährigen Erfahrung als Psychologische Beraterin und BewusstSEIN-Coach nur bestätigen. Viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen aus der Generation Krieg- und Nachkriegskinder und -enkel sind hochgradig traumatisiert und bindungsgestört. Ein Baby hat Bedürfnisse? Wo kämen wir da hin? Es muss erzogen werden (dressiert), damit es schön „brav und angepasst“ ist.
Zwillinge zu trennen, ohne dass ein Elternteil dabei ist – echt krass.
Sehr gut, dass du dieses Thema aufgegriffen hast und dein eigenes Beispiel zur Demo nutzt.
Alles Gute für dich, deinen Partner und deine Kinder
Herzlichst
Sylvia
Vielen Dank für deine Sichtweise als Expertin liebe Sylvia.