Dieser Blogartikel entstand im Zuge der Blogparade der Nikas. Ich habe mich für das Thema Erziehungstrauma entschieden.
„Reiß dich zusammen.“ „Jetzt hör auf zu heulen.“ „Dafür gibt’s doch keinen Grund.“ Na, klingelt’s? Willkommen in der Welt der schwarzen Pädagogik. Ein pädagogisches Erbe, das sich nicht durch ein paar liebevolle Insta-Zitate auflösen lässt, sondern tief in unseren Zellen, Glaubenssätzen und Nervensystemen sitzt. Und das, obwohl wir längst erwachsen sind, mitten im Leben stehen und vielleicht sogar selbst Kinder haben.
Ich erzähl dir heute von einem unsichtbaren Rucksack, den viele von uns tragen. Und wie dieser Rucksack dafür sorgt, dass wir uns permanent schlecht fühlen, sobald wir es wagen, mal einen Gang runterzuschalten. Spoiler: Er gehört gar nicht wirklich uns. Es ist ein typisches Erziehungstrauma, ein emotionales Erbe aus einer Zeit, in der Gefühle keinen Platz hatten.
Inhaltsverzeichnis
Schwarze Pädagogik: Dressur statt Beziehung
Die schwarze Pädagogik ist keine Gruselmär aus der Mottenkiste. Sie ist eine sehr reale Erziehungsform, die in vielen Familien auch heute noch weiterlebt. Es geht um Gehorsam statt Dialog, um Kontrolle statt Vertrauen, um emotionale Kälte statt echter Bindung.
Katharina Rutschky und Alice Miller haben dieses System bereits vor Jahrzehnten benannt. Kinder sollten funktionieren, nicht fühlen. Liebesentzug war das pädagogische Mittel der Wahl. Und wehe, da war ein Bedürfnis zu viel im Raum. Das galt als schwach, störend oder egoistisch.
Diese Pädagogik hat Wurzeln, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, wo Kinder gezielt gebrochen wurden, um sie gefügig zu machen. Institutionell legitimiert, gesellschaftlich gefeiert und bis heute in stillen Wiederholungen aktiv. Emotionen wurden als störend betrachtet, Bedürfnisse als Luxus. Schmerz wurde nicht verarbeitet, sondern verschwiegen. Und genau das lebt in vielen Familien noch immer weiter.
Ein besonders perfides Beispiel dafür ist das Buch „Die Mutter und ihr Kind“ von Johanna Haarer. Dieses Werk wurde millionenfach verbreitet und war jahrzehntelang das Standardwerk für Mütter in der NS-Zeit und darüber hinaus. Es propagierte eine Erziehung voller emotionaler Distanz, Kontrolle und strikter Regeln. Babys sollten möglichst früh lernen, nicht zu weinen. Nähe galt als schädlich. Gefühle? Unerwünscht. Das daraus resultierende Erziehungstrauma wirkt bis heute in vielen Biografien nach.
Alice Miller beschreibt, wie diese Form der Erziehung ein falsches Selbst erzeugt, eine Maske, die Kinder tragen, um Liebe nicht zu verlieren. Wir wachsen auf und funktionieren weiter. Die alten Muster laufen unterbewusst. Irgendwann brechen wir zusammen und denken, das Problem wären wir. Dabei ist es die Strategie unseres Systems, das uns immer noch im Modus der Anpassung hält.
Das Tragische? Viele von uns haben gelernt, sich selbst so zu behandeln. Streng, leistungsorientiert, gnadenlos. Selbstfürsorge? Unproduktiv. Pause? Verdient man sich erst nach dem Burnout.
Transgenerationale Traumata: Wenn Schmerz vererbt wird
Vielleicht denkst du dir jetzt: Okay, bei mir war das nicht so extrem. Und trotzdem fühlst du dich oft gestresst, überfordert, innerlich zerrissen. Genau hier kommt das Konzept der transgenerationalen Traumata ins Spiel. Sie sind die große Schwester des Erziehungstrauma, weitergereichte Muster, die tief in unser Familiensystem eingebrannt wurden.
Viele unserer Großeltern haben Krieg, Verlust, Hunger, Gewalt erlebt. Ihre Kinder – unsere Eltern – sind oft emotional verwahrlost aufgewachsen. Ohne sichere Bindung, ohne Raum für Gefühle. Diese Muster wurden weitergegeben. Nicht, weil jemand das wollte. Sondern weil niemand wusste, wie man es anders macht.
Trauma wird nicht nur durch das weitergegeben, was passiert ist. Sondern auch durch das, was nicht passiert ist: Trost. Sicherheit. Gesehenwerden. Oder auch und vor allem durch das Schweigen über das Geschehene.
Wir erben nicht nur das gute Porzellan und ein paar Sprichwörter. Wir erben auch Scham, Überlebensstrategien und das tiefe Gefühl, nicht gut genug zu sein. All das sind Facetten des Erziehungstraumas, das unser heutiges Selbstbild prägt.
Chaos als Kompass: Warum dein Durcheinander nicht dein Feind ist
Viele meiner Mentees kommen zu mir mit dem Satz: „Ich bin einfach zu chaotisch.“ Und jedes Mal will ich ihnen sagen: Nein, du bist nicht zu chaotisch. Du bist zu oft gezwungen worden, dich zu unterdrücken. Dein Chaos ist kein Fehler. Es ist ein Hinweis und zeigt dir, wo dein Nervensystem rebelliert. Wo dein inneres Kind immer noch im Leistungsdruck der Vergangenheit gefangen ist.
Das, was du heute „Unproduktivität“ nennst, war früher dein einziger Schutz. Das Aufschieben, das Nicht-Funktionieren, das war Überleben. Heute nennen wir’s Prokrastination. Aber dein System glaubt einfach, es müsste dich schützen.
Reparenting statt Selbstoptimierung
Was wir brauchen, ist kein noch ausgeklügelteres Selbstmanagementsystem. Was wir brauchen, ist Reparenting. Eine neue Form der Selbstführung, die weich, mitfühlend und gleichzeitig kraftvoll ist. Die uns erlaubt, Fehler zu machen, Bedürfnisse zu haben und vor allem nicht perfekt zu sein.
Selbstfürsorge ist kein Wellnessluxus. Sie ist Widerstand. Eine Entscheidung gegen die schwarze Pädagogik. Gegen die Stimmen im Kopf, die uns sagen, wir seien zu viel oder zu wenig oder grundsätzlich falsch.
Wir dürfen aufhören, zu funktionieren. Stattdessen dürfen wir beginnen, zu fühlen. Zu hinterfragen. Und zu heilen. Stück für Stück. Heilung vom Erziehungstrauma ist möglich, aber sie beginnt nicht mit Disziplin, sondern mit Mitgefühl.
Mein Wunsch: Heilung möglich machen
Und weißt du, was mein tiefster Wunsch ist? Irgendwann nicht nur über diese Dinge zu schreiben, sondern mit Menschen an ihren Traumata zu arbeiten. Nicht, um in der Vergangenheit zu wühlen. Sondern um endlich das Licht wieder anzuknipsen. Um zu zeigen: Du bist nicht kaputt. Du warst nur lange in einem System gefangen, das dich nicht gesehen hat.
Bis dahin begleite ich kreative Chaotinnen dabei, ihr Chaos nicht länger als Schwäche zu sehen, sondern als Schatzkarte. Ich helfe ihnen, Struktur nicht als Zwang, sondern als Unterstützung zu erleben. Und ich zeige ihnen, wie sie sich selbst die Mutter, der Vater, der sichere Ort sein können, den sie früher gebraucht hätten.
Fazit: Du bist nicht falsch. Du bist auf dem Weg.
Wenn du das Gefühl hast, ständig zu versagen, nicht hinterherzukommen, nie genug zu sein, dann liegt das nicht an dir. Es liegt am Erziehungstrauma, das dir beigebracht hat, dich selbst zu übergehen. Aber du kannst dich entscheiden, neu zu lernen. Dich neu zu sehen. Und das weiterzugeben. An deine Kinder. Deine Kund:innen. Deine Community. Denn jede:r, der sich erlaubt, weicher zu werden, macht diese Welt ein Stück heilender. Und falls du beim nächsten Mal wieder denkst, du müsstest mehr leisten, denk daran: Die Revolution beginnt manchmal mit einem Nickerchen 😉
Ich kann dir zwar noch nicht mit deinem Trauma helfen, aber damit dein chaotisches Ich anzunehmen. Lass uns da mal zusammen quatschen.